Radfahren

Weltanverwandlung auf zwei Rädern.

Dem viel zu früh verstorbenen Intellektuellen, Publizisten und TV-Journalisten Roger Willemsen, seinem Denken und seiner Fähigkeit, komplexe  Zusammenhänge in druckfertige Sätze zu kleiden, fühlen wir uns so nahe, dass wir ihn als Stammgast der Blauen Gans betrachten, obwohl er wissentlich niemals bei uns eincheckte.

Wäre dies der Fall, kämen wir am Gang über eines seiner Lieblingsthemen ins Gespräch, die Kunst des Reisens. „Ich kann kein grundsätzlich Anderer werden, ich kann nur meinen Konjunktiv bereisen.“ Sätze wie dieser würde er einem irgendwann zuwerfen, während er eines unserer Klappräder startklar machte. „Was, wer, wie wäre ich, wenn ich wo bin?“ würde er fragen. „Hast Du eine bestimmte Vorgehensweise, um Dir selbst in der Möglichkeitsform zu begegnen?“ fragte man zurück, während er sich auf den Sattel des Fahrrades stützte, um zu antworten: „Das Entscheidende wäre, sich treiben zu lassen. Wie der Flaneur, der durch Großstädte zieht und nicht die Sehenswürdigkeiten miteinander verbinden will.“

„Heißt das, das zentrale Element Deiner Reisekultur ist die Absichtslosigkeit?“ Er würde nicken. „Ich lasse mich treiben. Und da, wo Spannung ist, da gehe ich hin!“ Oder fahre ich hin, könnte man denken, man sagt ja: „Erfahrung“ und meint das Unterwegssein als Mensch, das Weiterkommen und das gleichzeitige Aneignen von Welt, was am besten auf dem Fahrrad gelingt.

Willemsen schöbe sein Rad zum Ausgang und hätte noch einen anderen Gedanken: „Die Möglichkeit, selber vollkommen zu verschwinden, unscheinbar zu sein, sich zu verlieren, ist eine Bedingung dafür, sich selber zu gewinnen. Und in einem anderen Sinne tatsächlich, ja, sich zu besitzen. Um ‚ich‘ sagen zu können.“

Wir wären uns einig: Am Intensivsten spürbar ist dies an Orten, an denen wir es nicht erwarten und die wir nicht gefunden hätten, hätten wir uns auf die Suche nach ihnen begeben. Vermutlich ist es so, dass die Geschichten, Situationen und Ereignisse an einem Ort uns entgegenkommen, weil sie etwas mit uns zu tun haben.

„Ja, genau. Ich nehme die Orte persönlich. Ich finde immer, dass ich wirklich nur dagewesen bin, wenn ich den Ort von allen anderen unterscheiden kann, die ich sonst gesehen habe.“ „Und jetzt Tschüss!“ würde unser Lieblingsgast zwischen Tür und Angel gesagt haben, und ohne Ziel losradeln.