Getreidegasse

Salzig-süße Schulden.

Zehn Krokantkringel, an jedem ausgestreckten Finger einen, das war die Währung zwischen der Tante Feichtner und mir. Sie war die Chefin der legendären Wiener Bäckerei in der Getreidegasse 11, von der heute noch jeder ins Schwärmen gerät, der die Gnade der frühen Geburt hat. (Die Bäckerei wurde 2003 geschlossen.) Ich war ein kecker Volksschüler und Nutznießer einer Schuld gegenüber meiner Großmutter, die die Frau Feichtner seit dem Krieg nicht abgetragen hatte und ihr ein für meine Ansprüche ausreichendes schlechtes Gewissen eintrug. Schon lange hatte meine Großmutter den Sack Salz, der während des Krieges ohne Entgelt die Besitzerin wechselte, innerlich abgeschrieben, die Tante Feichtner allerdings hatte mich zum alleinigen Begünstigten ihrer süßen Schuldentilgung erhoben – mit meinem allergrößten Einverständnis.

Die Historiker verbinden mit der Getreidegasse Grandezza anderer Art: Sie ist die Straße der Bürgermeister und Stadträte, der Saumhändler und Handelshäuser, der hochfürstlichen Pfleger und Richter, der Gewerken und Münzer. Wohlstand und Glanz eines kleinen Fürstentums spiegelt sie. Fast alle geschichtsträchtigen Familien hatten hier ihren Sitz. Hofmusiker wie Franz Heinrich Biber oder Leopold Mozart waren hier höchstens Untermieter.

Tragasse“: So hieß diese Hauptverkehrsader in ältester Zeit, bis zum 17. Jahrhundert die einzige Durchzugsstraße der Stadt. Die erste urkundliche Nennung erfolgte anno 1150. Der Name wird  von „traben“ und „trabig“ (=eilig) hergeleitet. Immerhin musste diese enge Straße den gesamten Verkehr zwischen den Stadttoren bewältigen. Marschierende, Reiter, Fuhrwerker sowie Viehherden, die zum Markt vor der Residenz getrieben wurden, Geschäftsleute jeglicher Art: wer auch immer in der Stadt zu tun hatte, musste hier durch.

Ich stelle mir vor, darunter waren auch solch üble Gesellen wie ich, die mit Hartnäckigkeit und ohne Erbarmen die Schulden der Vergangenheit eintrieben.

 

Andreas Gfrerer