Blaue Gans-Gänse
Am Anfang war das Ei.
„Ab ovo“ bezeichnet die literarische Form, die Ereignisse vom frühestmöglichen Zeitpunkt, vom absoluten Beginn, also vom Ei an, zu erzählen, also:
In älteren Mythen entsteht der Kosmos aus einem Ei. Das finnische Nationalepos Kalevala nennt die Eier einer Tauchente, bei den alten Ägyptern schwamm das Ur-Ei einer Nilgans im chaotischen Nichts. Als diese losschnatterte, durchbrach sie die Ur-Stille des Universums und das Ei zerbrach; das erste Sonnenlicht leuchtete daraus und die Welt ward erschaffen.
So wurde die Gans schon früh verehrt und bei den Römern in den Tempeln der Juno als heiliges Tier gehalten. Die Gänseschar am Kapitol warnte Rom vor einem Angriff der Kelten und wird seitdem – gleichsam zur Erinnerung – festlich verspeist. Auch die Gänse des Heiligen Martin hatten mit Geschnatter auf ihn aufmerksam gemacht und sind seit dem 16. Jahrhundert fester Bestandteil des kulinarischen Jahreskreises.
In Bestiarien, die der französische Historiker und Mediävist Michel Pastoureau gesammelt und untersucht hat, wird berichtet, dass nur mit einem blauen Band um ihren Schnabel gebunden einer schnatternden Gans beizukommen ist; ein rotes würde sie zu sehr aufwühlen, da sie heißblütig sei, und deshalb nur kühlen Kohl fresse. Das Verspeisen der Gans wiederum verheißt in der Traumdeutung sämtlicher Kulturen gutes Gelingen, Glück und Freude, und die Brüder Grimm empfehlen in ihrem Deutschen Wörterbuch beim Verzehr der Martinsgans unter der Mahlzeit ein Gedicht auf das Gericht, also ein Gänsegedicht, anzustimmen.
Lyrik ab ovo, sozusagen.
Text: Karin Buchauer