
Im Interview

Thomas Oberenders Wahrnehmung von Salzburg.
Gänsehaut: Wie ist dein Lebensgefühl in der Stadt (auch das deiner Familie?)
Im Grunde hat man für den Urlaub, den man als Ortsansässiger in dieser Stadt gerne jederzeit machen möchte, in meinem Beruf leider kaum Zeit. Aber der Luxus, in nächster Nähe zu diesen Seen und Bergen zu leben, ist sehr wohltuend – wenngleich eher latent als wirklich manifest in meinem Alltag. Und so bleibt das Verwöhntwerden der Augen und Sinne beim täglichen Weg ins Büro durch den Mirabellgarten, über den Mozartsteg und Alten Markt – es ist wie ein Dauerurlaub in einer Fotopostkartenwelt: schön und so unberührbar zugleich. Es ist ein Ort, um zur Ruhe zu kommen.

Gänsehaut: Was fehlt dir hier? Was könnte anders sein?
Die Stadt ist sehr überschaubar, wenngleich nicht wirklich durchschaubar. Sie weckt bisweilen ein Bedürfnis nach Anonymität, nach der Gleichgültigkeit der Großstadt, in der man sich nirgends anschließen muss, keinem Zirkel oder Kreis angehören und nichts darstellen muss, als das, was man ohne Titel und Amt tatsächlich zu sein glaubt. Die moderne Architektur in der Stadt sorgt oft an ganz unerwarteten Stellen für wirklich großstädtische Überraschungen. Aber die Chance, bei markanten Neubauten wirklich Akzente zu setzen, wie beim Neubau des kleinen Festspielhauses, der Umgestaltung des Furtwängler-Parks oder dem Neubau des Museums der Moderne, ist vertan worden. Da entstanden trotz enormer Anstrengungen harmlose Kompromissbauten, die man sich, kaum sind sie da, schon wieder erneuert wünscht. Die Berliner bauen da lieber gleich ihr altes Stadtschloss wieder auf.

Gänsehaut: Wo hast du Resonanz erfahren in der Stadt?
Die Resonanz ist ja ein vieldeutiger Begriff – sie kann einen Widerhall bedeuten, den man von unterschiedlichsten Dingen oder Umständen bezieht oder in ihnen auslöst. Zunächst sind es aber sicher Menschen, die man durch sein eigenes Tun in eine gewisse Schwingung versetzt, bzw. von denen eine Energie ausgeht, die einen selbst mitschwingen lässt. Markus Hinterhäuser ist solch ein Mensch mit ganz eigener, frei bleibender Schwingung. Oder die Verlegerin Mona Müry. Oder eine magische Physiotherapeutin wie Eva Kuschnigg. Aber auch soziale Körper können dergleichen auslösen. Die Festspiele z.B. sind ein solcher Generator guter Schwingungen, oder ein gutes Lokal wie Schios Specereien oder die Blaue Gans oder das Triangel, wenn man zur rechten Zeit kommt. Und dann gibt es die Resonanzen im Sinne eines Medienechos auf die eigene Arbeit. Dazu zählen auch die Publikumsreaktionen am Abend bei den Vorstellungen, die Besucherbriefe, Anrufe. Zur Resonanz gehört die Erregung, das Angeregtwerden, das Überspringen eines Impulses – auch das habe ich erlebt, indem Menschen mich spontan auf Erlebnisse im Schauspielprogramm ansprechen und etwas loswerden wollen. Obgleich Salzburg eine Stadt ist, in der vieles nicht nur zwei Gesichter hat, sondern gar keines und man somit in das Innere der Häuser und Haltungen als Fremder kaum vordringt. Das Schwert der Salzburger, scheint mir oft, ist ihr Lob. Man muss sich von ihm unabhängig machen, damit sie es auch so meinen. Die beipflichtenden Menschen sind nicht selten die gefährlichsten Sterbehelfer. Aber das trifft wahrscheinlich auf jeden Ort von so kompakter Struktur und ähnlichem Geschäftssinn zu, obgleich der Festspielwahnsinn, der Mozartwahnsinn und der Bilderbuchwahnsinn dies alles noch verstärken.

Entsetzlich ist, dass diese Stadt so klein ist, tatsächlich im statistischen Sinne. Hier ist alles mit allem verbandelt und man ist auf so kleinem Raum zu engster Abstimmung verpflichtet – die auch immer, getreu dem Festspielmotto, ein Spiel der Mächtigen ist. Wie bedenklich ist es, dass die Festspiele eine solche Macht entwickelt haben, dass sie sich allein schon in der vorausseilenden Form der ihr entgegengebrachten, allgegenwärtigen Devotion manifestiert? Bei gleichzeitiger Ignoranz dessen, was bei den Festspielen wirklich passiert oder geleistet wird oder eben nicht? Sie verkaufen im Sommer das Vierfache der Karten der Bayreuther Festspiele – das ist nicht mehr steigerbar und zeigt zugleich, dass die Energie, die von den Festspielen ausgeht, eigentlich etwas zum Schwingen bringt, das sich diese Stadt zwar zum Ort wählt, aber nicht der Ort ist. Das fasziniert. Dieses Mitdenken des zweiten Ortes, der innerhalb dieser Stadt lebt und doch in ihr nie aufgehen kann und darf. Man muss sich in dieser Stadt bewegen wie auf einer Séance, denn am Tisch sitzen immer mehr Menschen, als sich gerade an den Händen halten. Diese Geister muss man herunterbeten. Dann stimmt die Schwingung.

Gänsehaut: Lösen die Festspiele etwas aus, was nach deren Ende auf dich oder als spürbare Stimmung insgesamt weiterwirkt?
Nach ihrem Ende passiert etwas Merkwürdiges: Aufatmen, dass man für den Weg zum Büro nicht mehr achtzehn, sondern nur noch zwölf Minuten braucht und der Mozartsteg nach Wochen der Blockade durch fotografierende Touristengruppen endlich wieder halbwegs passierbar ist. Und zugleich der große Katzenjammer – die Müdigkeit setzt ein, der Adrenalinspiegel sinkt und all der Austausch hat ein Ende. Für zehn Monate Arbeit gab es fünf Wochen Rückstrahlung und Ausstrahlung, danach beginnt wieder das Leben im Elfenbeinturm des Büros auf dem Mönchsberg bzw. das Umherfahren auf den Wegen des Geschäftsreisenden, zu dem man selbst wieder wird. Kunst – das war die kurze Zeit des Abenteuers, in der man sah, wie die eigenen Ideen ins Leben treten, Raum greifen oder verpuffen. Die Wirtsleute machen erst mal Urlaub, man selbst in Windeseile das nächste Programm, und dann ist die Stadt im November plötzlich wieder leer, wie man selbst, und gehört den Gärtnern im Mirabellpark, die über Nacht die Blumen aus den Rabatten nehmen. Um in der Stadt zu leben, ist es die schönste Zeit.

Gänsehaut: Welchen Stellenwert hat die Literatur in der Stadt?
Man kann nicht unter dem Felsen des Mönchsberges stehen, ohne an Thomas Bernhard und die von keiner Zeitung erwähnten Selbstmörder zu denken. Man kann nicht über dem Toscanini-Hof stehen, ohne das schöne Gedicht von Trakl zu lesen oder an der Salzach entlang gehen, ohne an das Erstaunen jener Journalistin zu denken, neben der Peter Handke plötzlich seine Sachen ablegte und im Fluss baden ging. Und man kann nicht auf dem Kapuzinerberg an Stefan Zweigs ehemaligem Haus vorübergehen, ohne an die Verbrennung seiner Bücher in der Stadt zu denken, an Hitler in Sichtweite auf dem Obersalzberg und den Selbstmord des Dichters im fernen Petrópolis, nachdem er von Schlägern und Bomben im Garten via London ins brasilianische Exil gezwungen wurde. Vladimir Vertlib lebt in Salzburg, doch ich habe noch kein Interview mit ihm zu aktuellen Anlässen in den Salzburger Nachrichten gelesen. Das Café Bazar ist wunderbar, aber es bleibt beim Bernhard-Zitat auf der Speisekarte, kein Dichter am Tisch. Dafür gibt es großstädtische Buchhändler wie Klaus Seufer-Wassertal von der Rupertus Buchhandlung und kluge Literaturvermittler wie Brita Steinwendtner und Tomas Friedmann in der Stadt. Zudem zahlreiche Verlage und nicht zu vergessen – viele, viele Leser, wie man bei den verschiedensten Veranstaltungen immer wieder dankbar feststellt.

Gänsehaut: Kulturstadt Salzburg: Ist das so? Welche Identität hat die Stadt?
